Rund 100 Digitalexperten und Designer erforschen nahe Berlin Mobilitätslösungen von morgen. Vor allem aber erproben sie ein neues, zukunftsweisendes Zusammenarbeiten. Ein Besuch.
Am Anfang war da nur ein Name: USP, kurz für „Urban Shared Pod“. Das war das Ziel – eine mobile Kiste zu entwickeln, die Menschen sich teilen können und die es so noch nicht gab. Der Rest war TBD, to be discussed. Das erste, was die Mitglieder im „Team USP“ dann erstellten, war ein Blatt mit Fragen. Löst unser Auto Probleme?, stand da zum Beispiel. Kann man es genießen? Verbessert es den Alltag der Nutzer? Berührt es sie?
Im Volkswagen Group Future Center Europe, einem Glas-Beton-Bau in bester Lage der Landeshauptstadt Potsdam, arbeiten rund 100 Designer und User Experience Designer, Software-Entwickler und IT-Profis an der Mobilität von morgen. Das tun zurzeit in der Branche ja alle irgendwie, aber die hiesigen Kollegen können für sich einen weiteren USP in Anspruch nehmen. Ihren „Unique Selling Point“: Sie entwickeln weniger neue Verkaufsprodukte, sondern erproben vielmehr neue Perspektiven. „Wir fragen zuallererst: Was wollen die User?“, erläutert Mark Bergold, Lead UX Design.
Was naheliegend klingt, bedeutet in der traditionsreichen Konzernhistorie ein echtes Novum. Bislang bestimmten technologische Innovationen zumeist die Automobilproduktion, die Design- und IT-Abteilungen erhielten konkrete Umsetzungsaufträge. Die digitale Ära dagegen erfordert eine neue Arbeitskultur. Es gilt, schnell, flexibel und maßgeschneidert Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Digitale Angebote zu schaffen, die lernfähig und adaptierbar sind. „Wir wollen weniger Aufträge ausführen, mehr Kundenprobleme lösen. Wir arbeiten in agilen, interdisziplinären Teams mit flachen Hierarchien und ohne Alleinherrscher. Und wir holen möglichst frühzeitig und oft das Feedback unserer User ein“, sagt Alisa Goikhman, als UX Design Concepter für smarte Schnittstellen zuständig. „Human Thinking“ nennen die Macherinnen und Macher im Future Center diese Philosophie. Im Mittelpunkt stets: Menschen. Ihre Bedürfnisse. Ihr Wohlbefinden. Sowie das, was Volkswagen tun kann, um ihr Vertrauen in neue Mobilitätslösungen zu stärken.
„Team USP“ startete Ende 2016 mit zwei vierwöchigen Sprints. Nach dem eingangs erwähnten Fragenkatalog gingen die Teammitglieder erst mal auf die Straße und baten Berliner Passanten um Antworten. Dann ging’s an die Auswertung: User Journeys entstanden, um Kundenbedürfnisse in verschiedenen Lebensphasen besser zu verstehen. In der vierten Woche baute das Team in der Werkstatt seinen ersten Pod mit Holzchassis und Sitzpolstern. „Im Future Center stellen wir das meiste selbst her“, erzählt Marian Hilgers, Exterior Designer. Für fast alles gibt’s hier Experten, alles ist möglich, und alles ist in Bewegung. Im Volkswagen Design Center Potsdam, aus dem das Future Center 2016 hervorging, mussten Entwürfe für Vorführungen quasi serienreif aussehen. Beim „Urban Shared Pod“ ist die prototypische Vorläufigkeit Programm.
„Wir entwickeln außerhalb der Serienprozesse. Das macht uns freier. Und offener für ungewöhnliche Impulse.“
Aaron Post, Interior Designer
Nach jedem Entwicklungsschritt gibt’s im „Team USP“ Feedback der User – erst digital mit Virtual-Reality-Brillen-Führung, später real und greifbar mit einem Wizard Bus, in dem die Probanden den USP samt Services live ausprobieren konnten. Dieser Bus simuliert trickreich autonomes Fahren. Er hat zwar einen Fahrer – doch die Passagiere sehen ihn nicht, sondern einen Bildschirm, auf dem per Kamera die Windschutzscheibensicht so täuschend echt projiziert wird, dass man denkt, fahrerlos unterwegs zu sein.
Auch auf das passende Mobilitätskonzept einigte man sich schnell. „Ride Hailing ist ein Sharing- Angebot, das vielen Nutzern entgegenkommt“, sagt Inae Song, UX Design Concepter: Der per App gebuchte USP holt Nutzer an deren Aufenthaltsort ab und fährt sie so lange wie gewünscht. Während der Fahrt können die Passagiere Lebensmittel oder Coffee-to-drive ins Auto liefern lassen. Via Screen Konzerttickets buchen. Oder nach Lust und Laune Musik genießen, ob im Entertainment-, Karaoke- oder Meditationsmodus.
Aktuell befindet sich „Team USP“ in einem Sprint, um digitale Anwendungen auf User-Bedürfnisse hin zu optimieren, intelligente Bezahlmodelle und Netzwerke zu entwickeln. Der Projektverlauf ist iterativ, jedes Resultat wird kontinuierlich verbessert. „Einer unserer Vorteile besteht darin, dass wir außerhalb der Serienprozesse entwickeln dürfen“, sagt Aaron Post, Interior Designer. „Das macht uns freier. Und womöglich offener für ungewöhnliche Impulse.“
Die Future-Center-Denkweise kommt offenbar an. Weitere Zentren in Peking und Kalifornien haben ihre Arbeit aufgenommen, um auch die Kundenbedürfnisse in den Kernmärkten China und Nordamerika besser kennen und auswerten zu können. Und schon seit 2016 touren Future-Center-Mitarbeiter quer durch Marken und Kontinente, um „Human Thinking“ in Workshops erleb- und anwendbar zu machen. Das Feedback ist meist positiv, bisweilen überraschend, aber stets neu und bereichernd.
„Wir arbeiten in agilen Teams ohne Alleinherrscher. Und wir holen so oft wie möglich das Feedback unserer User ein.“
Alisa Goikhman, UX Design Concepter
Auch beim Recruiting beschreitet das Future Center neue Wege. Das Gros der Mitarbeiter ist internationaler Herkunft, top ausgebildet und unter 35. Wenige sind klassische Autoprofis, einige haben nicht mal einen Führerschein. Was sie hierher zieht? Die Nähe zu Berlin. Das gute Teamplay mit den Leitern Nanna Nietiedt, Ulrike Müller und Peter Wouda. Eine smarte Work-Life-Balance. Vor allem aber das aufregende Gefühl, einen Weltkonzern weiterzuentwickeln.
Und wenn dann bei ihrer Arbeit ein zukunftsweisendes Produkt herauskommt, umso besser. 2017 sorgte in Genf und Frankfurt der Sedric für Aufsehen, ein selbstfahrendes Concept-Car ohne Pedale und Lenkrad, entstanden in Kooperation mit der Konzernforschung. Nutzer können das Fahrzeug per Knopfdruck buchen – mit dem OneButton, einer Fernbedienung kleiner als ein Autoschlüssel.
Mit SEDRIC hat das Future Center ein echtes Ausrufezeichen gesetzt – in der Branche wie im Konzern. Seither vergeht kaum eine Woche, in der sich nicht Mitarbeiter diverser Marken über Ideen à la OneButton in Potsdam austauschen.