Weltmeister Lucas di Grassi erklärt, was die Formel E so faszinierend macht. Und warum diesem Rennsport die Zukunft gehört.

Text: Marin Majica, Lucas di Grassi

Die FIA Formula E Championship wurde 2012 ins Leben gerufen, das erste Rennen startete 2014. Seitdem hat sie sich überraschend schnell und nachhaltig in der Rennsportwelt etabliert und den Motorsport revolutioniert.

Als weltweit erste vollelektrische Rennserie mit insgesamt zwölf E-Prix in zehn Städten wird die vierte Saison in 117 Ländern ausgestrahlt, internationale Sender wie Fox Sports, Canal+ und Eurosport berichten darüber. 45.000 Zuschauer verfolgten das Finale der vergangenen Saison am Streckenrand in Montreal. Die Rennen finden alle auf öffentlichen Straßen statt. In diesem Jahr gastiert die Formel E in Hongkong, Marrakesch, Paris, New York City, Santiago, Punta del Este, Mexico City, Rom, Berlin und erstmals in Zürich – das erste Motorsport-Event in der Schweiz seit 60 Jahren. Im Feld der zwanzig Fahrer (jeweils zwei pro Team) finden sich viele bekannte Namen, von Nick Heidfeld bis Nelson Piquet jr. Zudem wächst die Zahl der teilnehmenden Teams und Hersteller ständig – die Porsche AG hat kürzlich den Einstieg in die Formel E für die Saison 2019/20 angekündigt.

Das Team von Audi Sport ABT Schaeffler ist seit dem Auftaktrennen 2014 in Peking Stammgast in der Formel E. Auch die beiden Piloten Lucas di Grassi und Daniel Abt sind seit der ersten Saison an Bord, beide Fahrer standen regelmäßig auf dem Podium. Di Grassi war nicht nur der Gewinner des allerersten Formel-E-Rennens, er ist auch der offizielle Formel-E-Weltmeister 2017. Wer könnte besser die Gründe für den erstaunlichen Erfolg dieser Rennserie erklären als der Champion selbst.

Elektrisiertes Power-Duo: Gemeinsam mit Daniel Abt (r.) fährt Lucas di Grassi (l.) seit 2014 für das Team Audi Sport ABT Schaeffler.

1. Das Fahren

Die Formel E unterscheidet sich sehr von anderen Serien. Erstens fahren wir nur auf öffentlichen Straßen – die sind naturgemäß schmaler als reine Rennstrecken, was uns Fahrern höchste Konzentration abfordert. Zweitens sind Qualifying und Rennen sehr unterschiedlich. Im Qualifying fahren wir so schnell wie möglich vom Start zum Ziel – wie in jeder Rennserie. Im Rennen selbst fahren wir dagegen mit einer begrenzten Menge Energie. Das macht es strategisch sehr anspruchsvoll. Und drittens gibt es eine Menge Überholmanöver, weil das technische Niveau der Rennwagen sehr ähnlich ist und im Gegensatz zur Formel 1 im Prinzip jeder Fahrer jeden anderen überholen kann. Daher gibt es auch so viele Attacken. Die Strecken sind viel komplexer als etwa in der Formel 1. Und da das Risiko relativ gering ist, durch Berührung anderer Autos aerodynamische Qualität zu verlieren, machen die Fahrer genau das regelmäßig – meist in den Kurven. Für die Zuschauer verheißt das reichlich Action.

2. Die Rennstrecken

Es ist erstaunlich, dass wir mitten in großartigen Städten wie New York und Paris, Mexico City und Marrakesch fahren können. Hongkong zum Beispiel, wo die Saison begann, hat eine sehr kleine Strecke, die Rennen waren nur 80 Kilometer lang und fanden ausschließlich im Stadtzentrum statt. Natürlich habe ich, wenn wir das Rennen fahren, nicht die Zeit, mir die Stadt anzuschauen. Aber wenn wir an der Box stehen und die Kulisse betrachten, ist das einfach spektakulär. Wir können mitten in den Stadtzentren fahren, weil die Autos so leise sind. Elektroautos sind vor allem für urbane Räume gemacht, es ist die perfekte Technologie für Metropolen-Rennen. Auch deshalb wollen so viele Großstädte weltweit die Formel E unterstützen.

3. Die Regeln

Wir haben ein paar echte Sonderregeln in der Formel E – zum Beispiel den Fanboost, mit dem die Fans online abstimmen können, welche Fahrer im zweiten Rennen eine zusätzliche Menge Energie für das zweite Auto bekommen. Das ist eine großartige Chance für die Fans, in den Rennverlauf einzugreifen, auch wenn der Boost selbst nicht allzu viel Unterschied macht. Es zählt die Leistung als Fahrer, viel mehr als die überlegene Qualität des Autos. Die FIA hat die Regeln sehr streng gemacht, um sicherzustellen, dass die Autos sich sehr ähnlich sind und dass jeder Fahrer die gleichen Chancen hat zu gewinnen. Die Batterien zum Beispiel sind alle gleich, die Möglichkeiten für die Anpassung von Aerodynamik und Fahrwerk sind sehr begrenzt. Ich finde das gut, auch wenn es dramatische Konsequenzen für die Fahrer haben kann. Mein Teamkollege Daniel Abt hat das zweite Rennen in Hongkong gewonnen und wurde dann disqualifiziert, weil es einen Fehler in der technischen Beschreibung der Teile des Autos gab. Wir hatten deswegen keinen Vorteil, das Team hat nur einen Fehler gemacht. Das ist mir in der ersten und zweiten Saison auch passiert, so ist der Rennsport. Wir müssen unsere Rennstrategie an diesen Vorschriften ausrichten.

Up-and-coming Star: Daniel Abt war beim Saison-Auftaktrennen in Hongkong der schnellste Fahrer.

4. Die Strategie

Da die Energiemenge pro Rennen begrenzt ist, müssen wir unsere Strategie passend zu unseren Zielen aufbauen. Sagen wir: Jede Batterie hat 28 kWh und Sie müssen 28 Runden in jedem Auto machen. Sie können also im Durchschnitt nur 1 kWh pro Runde verwenden. Die Frage lautet: Wie nutzen Sie Ihr Potenzial? Das ist der schwierige Teil. Wo beschleunigen Sie maximal, wo ein bisschen weniger und sparen so Strom? Wo gehen Sie vor der Kurve vom Gas, wie regenerieren Sie die Energie beim Bremsen? Wenn Sie gegen einen anderen Fahrer kämpfen, ist es besser, Energie zu sparen, bis er nicht mehr so viel Energie übrig hat. Oder umgekehrt: Wenn Sie verteidigen, müssen Sie die Energie auf intelligente Weise nutzen, damit der andere Sie nicht überholen kann. Deshalb sage ich immer, es ist wie Schach spielen bei 200 km/h. Vor dem Start haben wir ein klares Ziel, müssen uns aber im Rennen schnell anpassen – abhängig davon, ob wir in einer guten oder schlechten Position sind oder wie der Boxenstopp gelaufen ist. Man wird nie perfekt darin, wir lernen immer weiter. Weil es Spieltheorie ist. Es kommt immer darauf an, was die anderen Fahrer machen. Alles in allem ist es sehr faszinierend

Strategische Herausforderung: Enge Teamarbeit mit Daten-Ingenieuren ist für Formel-E-Piloten elementar.

Der Weltmeister

Lucas di Grassi, 1984 in São Paulo geboren, ist mit sechs Siegen und 20 Podestplätzen einer der beiden erfolgreichsten Fahrer in der Geschichte der Formel E. Im Alter von zehn Jahren begann er mit Kartrennen. 2002 stieg er in den Rennsport ein und 2006 in die GP2-Serie, wo er vier Rennen gewann. 2010 wechselte er mit Virgin Racing in die Formel 1, mit dem Audi Sport Team Joest dann zur FIA World Endurance Championship. Seit 2014 fährt di Grassi in der Formel E. Er ist italienischer Abstammung, sein Großvater kam aus Apulien. Mit seiner Frau, der Designerin Bianca Diniz Caloi, lebt er derzeit in Monaco. Im September 2017 wurde er CEO von Roborace, einer Motorsport-Meisterschaft für autonom fahrende Elektrofahrzeuge, die auf denselben Strecken wie die Formel E stattfindet.

5. Die Fans

Die Zuschauer sind sehr nah an der Strecke – eine großartige Chance, die Vorteile von E-Mobilität live zu erleben. Und wir gehen dorthin, wo die Leute sind, sie müssen nicht ein oder zwei Stunden zur Rennstrecke fahren. Die Fans sind wirklich begeistert von der Technologie. Vor den Rennen veranstalten wir Events, fahren mit Fans im Simulator oder treffen sie bei der Fahrerparade. Das ist aufregend. Und womöglich ein Grund, warum oft auch Prominente wie Leonardo DiCaprio, Bar Refaeli oder Adrien Brody im Publikum sind.

6. Die Technologie

In der Formel E dreht sich alles um Nachhaltigkeit und Hightech. Als ich 2004 in der Formel 3 anfing, waren fast nur Mechaniker im Team. Sagen wir, neun Mechaniker und ein Datenexperte. Heute ist es umgekehrt. Wir machen vor dem Rennen digitale Renn- und Strukturanalysen und stimmen im Rennen das letzte verbleibende Prozent ab. Fahrer, Team, Hardware – in der Formel E muss alles stimmen. Und manchmal braucht man Glück, um zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Dass selbstfahrende Autos sich weiterentwickeln und im Rennsport eine wachsende Rolle spielen, macht es noch aufregender. In Hongkong haben wir ein Rennen „Human vs. Machine“ gemacht, das Video gibt es auf Youtube. Eine Fahrerin ist fünf Runden gefahren, und dann hat die Künstliche Intelligenz versucht, sie zu schlagen. Dieses Mal hat noch der Mensch gewonnen. Aber wir arbeiten an der Software. Roborace wird nie den Motorsport ersetzen, aber es kann eine tolle Ergänzung sein. Formel E ist eine ideale Plattform, um die neue Technologie zu fördern.

7. Die Vision

Je schneller sich E-Mobilität weltweit durchsetzt, umso besser für den Planeten. Der E-Rennsport kann dabei zweierlei leisten. Erstens hilft er, die Technologie voranzutreiben. Und zweitens zeigt er, dass Elektroautos tatsächlich schnell und cool zu fahren sind. So verändern wir unsere Wahrnehmung. Es geht nicht darum, dass wir die Guten sind und die Formel 1 die Bösen, nur weil sie Verbrennungsmotoren nutzen. Im Rennsport werden beide für einige Zeit nebeneinander bestehen. Aber ich freue mich, in der Formel E bei Audi zu sein. Es geht darum, die Technologie für die Zukunft zu fördern. Die große Vision für die Industrie sind elektrische und autonome Autos.

Metropolitane Role Models: In Großstädten wie Hongkong sind saubere und geräuscharme Rennautos wie der Audi e-tron FE04 höchst willkommene Gäste.

Hier steigen die zwölf Rennen der Saison

2017/18 feiern Rom, Santiago de Chile und Zürich ihre Premiere als Formel-E-Gastgeber.

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R12

02. DEZ 2017
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13. JAN 2018
03. FEB 2018
03. MÄRZ 2018
17. MÄRZ 2018
14. APR 2018
28. APR 2018
19. MAI 2018
10. JUNI 2018
14. JULI 2018
15. JULI 2018

Hongkong, HK
Hongkong, HK
Marrakesch, MA
Santiago, CL
Mexico City, MX
Punta del Este, UY
Rom, IT
Paris, FR
Berlin, DE
Zürich, CH
New York City, US
New York City, US