Sie sind „groundBREAKERS“ – Vorreiter und Vorbilder, die mehr vom Leben wollen als Armut, Kriminalität und Resignation. Sie zeigen, dass das möglich ist: in ihrer Community und in ganz Südafrika.
Der Karatetrainer steht schwitzend vor dem Jesusbild, das jemand auf ein Bettlaken gemalt und an die Wand gehängt hat, als Vuvu die Kinder zusammenruft. Vuvu ist 23 Jahre alt und heißt eigentlich Vuyokazi Noyo. Aber für ihre Freunde und auch für die Kinder, die sich in dieser Kirche auf dem Hügel über dem südafrikanischen Township KwaNobuhle in einem Kreis um die junge Frau aufstellen, ist sie einfach Vuvu. Was sie gleich beginnen wird, ist ein Vortrag über Drogenprävention. Aber so wenig dieser einfache Raum mit seinen Holzwänden, dem Wellblechdach und den Neonröhren unter der Decke, wo bis gerade noch ein Karatetraining stattgefunden hat, zu dem Wort „Kirche“ passt, so wenig hat Vuvus Auftritt mit einem sachlichen Aufklärungsvortrag zu tun.
Vuvu klatscht. Sie gestikuliert, singt mit den Kindern. In ihren Sätzen mischen sich Wörter voller Klicklaute aus der isiXhosa-Sprache mit englischen Vokabeln. Es taucht das Wort „Flakka“ auf, der Name einer Horrordroge, die sich vor allem unter den Ärmsten Südafrikas rasend schnell verbreitet und extrem aggressiv macht. Sie gehört zum Alltag in diesem Viertel, in dem viele Häuser einfache gemauerte Gebäude sind und manche nur Hütten.
„Definiere deine Lebenssituation, lass dich nicht von ihr definieren. Das Leben hält immer noch etwas Besseres für dich bereit.“
Ayanda Sali alias Einstein, groundBREAKER
Vuvu spielt vor, wie ein Süchtiger torkelt, sie redet eindringlich auf die Kinder ein, die ihr mit offenen Mündern zuhören. Dann läuft laute Technomusik, alle tanzen, auch der Karatetrainer tanzt mit. Am Ende steht Vuvu lachend zwischen den Kindern, verabschiedet sich und verspricht, dass sie bald wiederkommt.
„Ob mich diese Arbeit verändert hat?“ Vuvu muss über die Frage laut lachen. „Du machst dir keine Vorstellung davon, wie ich früher war. Ich habe hier so viel über mich selbst gelernt. Ich war nie scheu, aber ich hatte nicht die Fähigkeit, eine echte Beziehung zu Menschen aufzubauen.“
Nach ihrem Auftritt in der Kirche sitzt Vuvu nun in einem hellen Raum des loveLife Centre von KwaNobuhle. Das Jugendzentrum ist ein moderner Funktionsbau. 2012 wurde er für rund zwei Millionen Euro mitten in der Siedlung erbaut, die zur Stadt Uitenhage (gesprochen: Ju-Ten-Heg) gehört und deren Bewohner zu 99 Prozent schwarz sind. Es gibt hier im Zentrum Seminarräume, Computerplätze, einen Raum mit Billardtischen, ein Radiostudio und eine medizinische Beratungsstelle, offenes WLAN, im Innenhof einen großen Sportplatz. Vuvu kommt jeden Tag an diesen Ort, der ihr Leben verändert hat und an dem sie jeden Tag das Leben vieler anderer Menschen verändert, mal im Kleinen, manchmal ganz entscheidend.
Vuvu und ihre Freundinnen mit den Spitznamen Bubbles und Oshi sind groundBREAKERS. Vorreiter also. Junge Menschen, die sich eine Zukunft aufbauen in einem Umfeld, in dem Zukunftschancen eher rar gesät sind. Und die den anderen zeigen, dass sie das auch schaffen können.
Die jungen Menschen bewerben sich und bekommen, wenn sie ausgewählt werden, ein Jahr lang ein Stipendium. Sie arbeiten im Zentrum, das vom Volkswagen Community Trust finanziert wird. Die groundBREAKERS sprechen mit den Kindern und Jugendlichen über Verhütung und Gesundheit, über Ausbildung und Familienplanung, geben Kurse und machen Sport mit ihnen. „loveLife ist Spaß, Unterhaltung, Bildung, alles“, erklärt Vuvu. Oshi und Bubbles nicken. Für sie ist diese Arbeit eine ideale Berufsvorbereitung und die Hoffnung auf eine gute Ausbildung.
Wie eng der Konzern dem Zentrum und der Arbeit dort verbunden ist, zeigt das Volkswagen Logo außen an der Fassade und auf Stellwänden im Gebäude. Das ist kein Marketing, sondern ein Bekenntnis. Das Volkswagen Werk ist der größte private Arbeitgeber am Eastern Cape. Die Provinz am Indischen Ozean pflegt eine Partnerschaft mit dem Bundesland Niedersachsen, der Heimat von Volkswagen. Rund 1,2 Millionen Menschen leben in der Nelson Mandela Bay Metropolitan Municipality, zu der neben Uitenhage auch die nahe Küstenstadt Port Elizabeth gehört. Wie in ganz Südafrika prägen Arbeitslosigkeit, Korruption und neuerdings wieder steigende HIV-Infektionsraten den Alltag. Der Politik misstrauen viele, der Frust ist groß. Es ist viel erreicht worden seit dem Ende der Apartheid im Jahr 1994, es bleibt aber noch viel zu tun. Deswegen hat das, was im loveLife Centre geschieht, eine so große Bedeutung, weit über das Viertel und die Stadt hinaus. loveLife-Zentren gibt es im ganzen Land, aber dieses hier sei besonders, sagt Nonkqubela Maliza, Direktorin für Unternehmens- und Regierungsangelegenheiten bei Volkswagen Südafrika.
„Wie gut dieses Zentrum geführt wird, macht es so außergewöhnlich“, sagt Frau Maliza, die heute zu Besuch gekommen ist. „Die Theorie des Wandels hinter loveLife ist, dass du dein eigenes Leben lieben musst, dass du der Herr deines Schicksals sein musst, um etwas zu verändern. Du musst die Veränderung, die stattfinden soll, zuerst in dir selbst beginnen. Dann kannst du auch den Wandel in deine Community tragen.“
„Ich sage den Kindern immer: Vergesst nie, wo ihr herkommt. Und denkt immer daran, wo ihr hinwollt.“
Vuyokazi Noyo alias Vuvu, groundBREAKER
Wie das konkret aussieht, lässt sich gerade auf dem Sportplatz im Innenhof beobachten. Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben sich zum gemeinsamen Fitnesstraining getroffen. Sie hüpfen zur Musik auf der Stelle, boxen in die Luft, feuern sich gegenseitig laut an. Die jüngsten Teilnehmer sind drei, vielleicht vier Jahre alt, die ältesten ihre Großmütter, die mitgekommen sind. Nach dem Sport werden Medaillen und kleine Preise verteilt. „Es ist wichtig, dass ihr auf eure Gesundheit achtet“, ruft Themba Maseti den Kindern über Mikrofon zu. Dann gibt der 41 Jahre alte Programmmanager – Gesicht und Energiezentrum dieser und drei weiterer Einrichtungen – das Mikrofon an den DJ zurück. Bubbles und Oshi rufen Kinder zum Tanzen auf die kleine Bühne, ein paar Jungs zeigen beeindruckende Dance-Moves. Ein ganz normaler Vormittag im loveLife Centre. „Das ist kein Job, das ist eine Berufung“, sagt Themba. Er ist stolz, dass eine Reihe ehemaliger groundBREAKERS gute Jobs bekommen haben, einer hat es sogar als Moderator ins Frühstücksfernsehen geschafft. „Das ist das beste Vorbild, das loveLife geben kann.“
Energie und Lebensfreude sind außerhalb des Zentrums manchmal nicht leicht zu finden. Auf den Straßen in KwaNobuhle sind streunende Hunde unterwegs, Kühe und Schweine laufen frei herum. Vor einem Haus steht ein rotweißes Zirkuszelt. Eine Feier? „Da war gestern eine Beerdigung“, erklärt Vuvu, die nicht weit davon entfernt mit ihrer Mutter und ihrem Bruder lebt. Das Haus liegt in einem Viertel weit oben am Hang, wo die asphaltierte Straße zu einem sandigen Weg wird. Der Blick wandert hier über die umliegenden Hügel, die Häuser und Hütten, dazwischen flattert auf Wiesen der Plastikmüll, den der Küstenwind verweht hat. „Eine schöne Aussicht“, sagt der Besucher zu Vuvus Bruder. Der schaut skeptisch und fragt zurück: „Ist es das?“
Die Voraussetzungen der groundBREAKERS aus der Siedlung sind ganz unterschiedlich. Oshi, die Owethu Danster heißt, konnte auf eine Privatschule gehen und studiert jetzt an der Nelson Mandela University in Port Elizabeth. Das hat auch Babalwa Majola vor, die wegen ihrer quirligen Art und ihrer Haarlocken Bubbles genannt wird. Als groundBREAKER arbeitet sie in einer Klinik und macht Gesundheitsberatungen, sammelt wertvolle erste Praxiserfahrungen. „Meine Mutter hat immer alles dafür getan, dass ich weiterkomme“, erzählt Bubbles. „Und wir sind nie hungrig eingeschlafen.“ Die Küche im Haus ihrer Mutter ist ein gemütlicher Raum mit einem riesigen Herd. Nebenan schneidet ihr Bruder ein paar Jungs die Haare, der Anbau ist sein Salon und sein Schlafzimmer zugleich. Auf dem großen Herd kocht Bubbles’ Mutter immer noch jeden Morgen Essen, das sie in zwei Warmhalteboxen verpackt und zu den Fabriken in Uitenhage bringt, um es an die Arbeiter zu verkaufen. Bubbles zeigt ein Foto auf ihrem Handy: ihre Mutter morgens mit den Boxen auf einem Wägelchen. „Ich komme buchstäblich aus diesen Boxen.“ Dafür werde sie sich bedanken, wenn sie ihr Studium abgeschlossen hat, verspricht Bubbles. „Dann machen wir eine Riesenparty mit viel Essen, Mama.“
„Meine Mutter hat immer alles dafür getan, dass ich weiterkomme. Wir sind nie hungrig eingeschlafen.“
Babalwa Majola alias Bubbles, groundBREAKER
Auch die Eltern von groundBREAKER Ayanda Sali, 24, haben versucht, ihn so weit wie möglich zu unterstützen. Ayanda, den wegen seiner Begeisterung für Mathematik und Informatik alle Einstein nennen, lebt mit seinen Eltern und zwei jüngeren Brüdern am Rande der Siedlung. Der Garten des Hauses ist gepflegt, in den Beeten wachsen Kürbisse und Erdbeeren, Spinat und Karotten. Damit versorgt Einsteins Vater die Familie. „Sie machen tolle Arbeit“, erzählt der Vater über seinen Sohn und die anderen groundBREAKERS.
Einsteins Zimmer ist auf der Rückseite des Hauses, ein Bretterverschlag direkt neben dem Hühnerstall. Innen ist wenig Platz: ein Bett, ein Fernseher, ein uralter Kassettenrekorder, als Box an den Rechner angeschlossen. An den Wänden hängen handgeschriebene Zettel, auf einem steht: „The only limit is the one that exists in your mind.“ Grenzen kennt Einsteins Kopf eigentlich nicht viele, er hat reichlich Ideen. Zum Beispiel will er eine App programmieren, mit der man an einem 3D-Modell des eigenen Körpers neue Kleidungsstücke oder Make-up ausprobieren und direkt bestellen kann. „Niemand mag gerne im Laden warten, oder?“ Allerdings fällt sein Rechner bald auseinander, damit kann er schlecht weiter programmieren. Die echte Welt ist nicht so grenzenlos wie sein Geist. Er hatte ein Stipendium für die Universität, aber dafür musste er jeden Morgen um drei Uhr aufstehen, zum Bahnhof laufen, am Abend dasselbe wieder zurück. Irgendwann konnte er nicht mehr.
Aber aufgeben? Kommt für ihn nicht in Frage. Im loveLife Centre unterrichtet er die Kinder und Jugendlichen am Computer, er geht auch in Schulen und Gemeinden und spricht darüber, wie man ein gesundes und selbstbestimmtes Leben führen kann. Was ihn antreibt? „Die Idee, dass ich die Welt verändern kann.“ Bei jemand anderem könnte das wie eine auswendig gelernte Phrase klingen. Nicht bei Einstein, er glaubt daran. Und daran, dass er die Kraft hat, Großes in Bewegung zu setzen. Ein echter groundbreaker zu sein.
Volkswagen Südafrika
Uitenhage ist das älteste Volkswagen Werk außerhalb Deutschlands. Bereits 1951 wurde der erste Käfer in Südafrika montiert. Heute arbeiten hier 3.900 Menschen.
Die Straße zur Siedlung KwaNobuhle führt am Werk und an einem ausgedehnten Parkplatz vorbei, auf dem unzählige Fahrzeuge auf die Auslieferung warten. Ab 2018 sollen hier 150.000 Fahrzeuge pro Jahr vom Band rollen. Im Werk Uitenhage werden zwei Modelle gebaut: der New Volkswagen Polo und der Volkswagen Polo Vivo (das meistverkaufte Pkw-Modell in Afrika südlich der Sahara).
Eine Besonderheit, die im Straßenbild schnell auffällt, sind die vielen Golf I. Das Modell wurde in Südafrika bis 2009 gebaut und erfreut sich großer Beliebtheit, auch unter Tuning-Fans, die ihre Fahrzeuge bunt lackieren und mit Alufelgen und anderen Extras ausstatten.